Tradition, Trends und Technik – Tallinn zieht Designer, digitale Denker und Draufgänger an

Mit ihren Gebäuden zählt die Altstadt Tallinns zum UNESCO-Weltkulturerbe. In der digitalen Zukunft nimmt die Hauptstadt Estlands eine führende Rolle in Europa ein.

In den vergangenen 47 Tagen führte mich der Leitfaden für den baltischen Küstenwanderweg, den ich in einer Touristeninformation erhalten habe, zielsicher zu den Attraktionen der Ostsee. Seit der litauisch-lettischen Grenze bin ich etliche Kilometer entlang der baltischen Küste gewandert oder mit dem Fahrrad bzw. Monowheel abgefahren. Vielen Empfehlungen für Strände, Leuchttürme, Nationalparks, Campingplätze, Rund-Wanderwege, Märkte und Restaurants bin ich mit dem Wohnmobil gefolgt. Mit meiner Ankunft im Hafen von Tallinn erreiche ich nach 1.200 Kilometern Gesamtstrecke den Endpunkt des lohnenswerten Küstenweges.

Ein Hoch auf die estnische Hilfsbereitschaft

Mein Aufenthalt in Tallinn beginnt allerdings anders als geplant. Auf einem Campingplatz stelle ich fest, daß sich die Tür, hinter der meine WC-Kassette verstaut wird, nicht mehr verriegeln läßt. Mit einem Schraubenzieher öffne ich das Scharnier und alle Einzelteile inkl. Federn purzeln mir entgegen – ich kann sie gerade noch vor dem Hineinkullern in die Grauwasserkanalisation bewahren. Ich puzzle etwas herum und stelle fest, daß mir zum Einsetzen der dritten Feder eine weitere Hand zum Festhalten fehlt.

So sieht das Innenleben im Türschloss idealerweise aus.

Also ab zum Profi! Der erste Wohnmobil-Vermieter, den ich ansteuere, kann zwar nichts reparieren, telefoniert aber ein paar Camping-Anbieter für mich ab und schickt mich zu Matka Suvilad. Großes Lob an das Team, obwohl sie mit der Marke Rollerteam nichts zu tun haben, können sie mir helfen und gemeinsam pfriemeln wir alles erfolgreich wieder hinein. Ich kaufe noch ein Päckchen Gasfilter, spende 5 Euro in die Kaffeekasse und fahre am Nachmittag in die Hauptstadt Estlands.

Meinen widerspenstigen Camping-Faltstuhl habe ich auch gleich von den Profis begutachten lassen.

Am Hafen in Tallinn parke ich in erster Reihe mit Meerblick und Sicht auf die AIDA Cara und AIDA Aura, die dort seit dem Erliegen des Kreuzfahrttourismus‘ dauerankern.

Ich bezahle fürs Parken 2€ pro 24 Stunden. Ob die Kreuzfahrtschiffe auch einen günstigen Tarif bekommen?

Fluch und Segen der Digitalisierung

Estland gilt in Europa als Vorbild der Digitalisierung und Vorreiter in Technik – Videotelefonie über Skype und das Bereitstellen von freien Parkplätzen über Barking stammen aus Estland. Daher überrascht es mich auf einem Spaziergang nicht, daß ich hier meinen ersten Fensterwischroboter live in Aktion erlebe. Ich bin nicht die einzige Passantin, die auf dieses Gadget aufmerksam wird und mit offenem Mund vor dem Schaufenster stehenbleibt.

Nach Staubsaugen und Rasenmähen übernehmen Roboter auch das Fensterputzen.

In der TV-Sendung „Tallinn, da will ich hin“ (bis 9.8.2021 in der Mediathek verfügbar) erzählt eine Estin, daß es nur noch 3 Dinge gäbe, für die persönliche Anwesenheit erforderlich sei: Heirat, Scheidung und Immobilienkauf.

Für mich entpuppt sich die Digitalisierung für einige Stunden als Fluch. Im Hafenviertel Noblessner im Stadtteil Kalamaja nutze ich das freie WLAN eines Restaurants für das Update meines Betriebssystems. Ein normaler Vorgang, den ich schon etliche Male gemacht habe und es klappt alles – bis es zur Eingabe des PIN-Codes für die Sim-Karte kommt. Meine erste Eingabe sei falsch, noch 2 Versuche. Nanu? Ich hatte mir so eine schöne Eselsbrücke gebaut, wieso ist die auf einmal falsch? Aber ja klar: Ich habe gerade eine estnischen Sim-Karte im Handy. Wie war da noch gleich die PIN? Keine Ahnung. Wo habe ich die Unterlagen? Die liegen im Wohnmobil und an die PIN kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.

Digital ausgeknockt kann ich meine übliche kontaktlose Zahlweise per Handy vergessen, ohne Netzverbindung geht nichts. Ich möchte mit Kreditkarte zahlen (die ich nur bei mir trage, damit sie mir bei einem Einbruch ins WoMo nicht geklaut werden könnte), kann mich aber an meine PIN nicht erinnern. Diese PIN habe ich in meiner Passwort-App auf dem Handy verschlüsselt abgespeichert, ABER … an die komme ich im Moment nicht ran, weil ohne Netzverbindung der Zugang gesperrt ist. Ein Teufelskreis …

Die digitale Zukunft wird auch kritisch betrachtet.

Projekt Winterspeck ist voll auf Kurs

Bei einem Sundowner in einem Café am Rathausplatz komme ich mit dem Franzosen Yannik ins Gespräch. Bevor er nach Tallinn gezogen ist, hat er sich eine mehrmonatige Auszeit gegönnt – im Wohnmobil. Ich glaube ja nicht an Zufälle. Nun lebt er seit 4 Monaten in Tallinn und versorgt mich mit Stellplatz- und Restaurant-Empfehlungen für ganz Europa. Einen Tip befolge ich noch am selben Abend und gönne mir ein veganes Gericht mit lokalem Craft Beer in der Altstadt.

In einem Souvenir-Geschäft trinke ich mich während des Plauderns mit dem Ladeninhaber durch das gesamte Sortiment der lokalen Likörspezialität Vana Tallinn.

Die Cream-Variante links schmeckt wie Baileys und die klassischen Liköre gibt es mit steigendem Alkoholgehalt.

Auch beim Essen lasse ich meiner Entdeckungsfreude freien Lauf und es landen sehr kreative Produkte in meinem Magen – meistens sehr lecker und manchmal weniger gesund. Im dunkelroten Bereich der Ernährungsampel mit Zuckerschockgarantie liegen Kuki Muki: klebrige Maisflips mit karamellisiertem Kondensmilch-Überzug.

Wer auf die schlanke Linie achtet, sollte die Finger davon lassen.

All you can visit – Touristen-Programm ohne Touristen

Viele Orte in der Alt- und Domstadt habe ich vor 2 Jahren bei meinem Kreuzfahrtbesuch besichtigt. Ich schwelge in Erinnerungen, fotografiere die meisten Hightlights erneut – nur mit viel weniger Menschen, stelle fest, daß sich meine Geocaching-App an meine einstigen Funde erinnert und füge ein paar neue Geocaches hinzu.

Jaaa, ich bin mit’m Radel da

Mit dem Fahrrad begebe ich mich auf Entdeckungstour in Stadtviertel außerhalb des Kreuzfahrer-Radars. In der Telliskivi Creative City bummle ich durch Shops und Cafés in renovierten Fabrikhallen. Ein Start-up zu gründen oder zumindest einen Co-Working-Space in einem der hipp eingerichteten Ziegelsteingebäude anzumieten erscheint hier so mühelos. Kurz nachdem ich den Spruch „It’s eco-friendy to buy Vintage“ fotografiere, setze ich dieses Statement bei Veronika in ihrem Vintage-Shop (Vintage hört sich einfach besser an als Second-hand) Koplicouture um. Wir verhandeln einen guten Preis für meine neue alte Burberry-Regenjacke („it’s also good for camping“) und vernetzen uns über die sozialen Medien.

Auf dem Markt Balti Jaama hinter dem Tallinner Bahnhof gibt es vieles, was das Shopping-Herz begehrt. Bezahlung mit Bargeld und kontaktlos per App praktiziere ich rege. In einem der Läden dort vermisse ich die Kasse. Wie wird bezahlt? Natürlich digital! Jedes Kleidungsstück ist in einer App hinterlegt. Wer etwas kauft, scannt den QR-Code, bekommt den Artikel angezeigt, klickt auf „Kaufen“, dadurch erfolgt die Bezahlung mit der hinterlegten Kreditkarte und man kann ohne Kontakt mit dem Verkaufspersonal aus dem Laden spazieren.

Das Sortiment reicht über Antiquitäten, estnisches Handwerk und Dinge des täglichen Lebens.
Das Essensangebot läßt mein Genießerherz höher schlagen. Preiselbeeren schmecken nicht nur zum Camembert.
Durch die überdachte Bauweise würde ein Marktbummel auch bei Regenwetter Freude bereiten.

Der Sonntag heißt so, weil die Sonne scheint

Die Sonne zeigt Tallinn, was sie Ende September drauf hat und so radle ich die mit Fußgängern, Inlineskatern, Fahrrad- und E-Roller-Fahrern bevölkerte See-Promenade Richtung Strandort Pirita entlang.

Mein Ziel ist der Fernsehturm in Tallinn, der 1980 anläßlich der Olympischen Spiele errichtet wurde. In der bereits erwähnten TV-Sendung habe ich vom „Walk on the Edge“ erfahren. Am Teletorn im 22. Stock leint mich Guide Annika an den Sicherheitsgurt, führt mich souverän entlang der Kante und erklärt mir Tallinn aus 175 Metern Höhe. Da ich nichts mitnehmen darf, was herunterfallen könnte (also auch kein Smartphone), hält sie meinen Mutausbruch mit ihrer Kamera für die Nachwelt fest. Ich lasse buchstäblich die Füsse und meine Seele baumeln – ich fühle mich sicher aufgehoben und verspüre regelrecht Höhenfreude.

Ich habe in Tallinn viel erlebt, gesehen und gegessen. Für mich wäre es nun weiter Richtung Ost-Estland gegangen – mal wieder an die russische Grenze. Da diese Region mittlerweile zum Corona-Risikogebiet erklärt wurde, spare ich mir diese Ziele für den nächsten Besuch auf. Technisch befinde ich mich damit auf der Rückreise Richtung Mittel-Europa. Ich freue mich, wenn Du mich weiter begleitest und über Deine Kommentare, Tipps und Nachrichten.

14 Kommentare

  1. Liebe Uli, es macht so viel Freude, Dich zu begleiten und Einblick in die Kulturen zu gewinnen. VIelen Dank für Deine tollen Berichte! Alles Liebe weiterhin, Elke

    1. Liebe Elke,
      das Baltikum hat auch so viel zu bieten, derzeit sogar mit besserem Wetter als in Deutschland. Ich bin froh, daß ich diese Reise machen konnte.
      Liebe Grüße und Danke fürs Begleiten
      Uli

  2. Schöner Artikel. Wenn ich nicht schon dagewesen wäre (und fast alles bestätigen könnte was Du geschrieben hast) würde ich mich auf den Weg machen. Das mit dem Fernsehturm ist mir entgangen … beim nächsten mal! Viele Grüße

    1. Lieber Peter,
      das dachte ich mir, daß Du meine Reiseerlebnisse aus erster Hand nachvollziehen wirst. Einfach eine tolle Stadt. Und der Fernsehturm würde Dir auch gefallen. Das Herumspazieren war nicht so traumatisch, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte keinen Moment Angst – na ja, etwas aufgeregt vielleicht.
      Liebe Grüße zurück an die deutsche Ostsee
      Uli

  3. Was für ein toller Beitrag über Tallinn. Da ich noch nie in Tallinn war, habe ich durch Deinen Bericht jetzt richtig Lust auf diese Stadt bekommen.
    Nach Deinem „Walk On The Edge“ wird mir jetzt klar warum Dein Blog „MUTbegleiter“ heißt. Außerdem bin ich total verblüfft, dass Du Dich mit einem Monowheel so ohne weiteres fortbewegen kannst. Das würde ich nie auf die Reihe kriegen.
    Lass es Dir weiterhin gut gehen, ich freue mich auf Deinen nächsten Blog.
    Horst

    1. Lieber Horst,
      dann wünsche ich Dir, daß Du Deine Reisepläne für Tallinn möglichst bald in die Tat umsetzen kannst. Das ganze Baltikum lohnt sich – je nachdem, wieviel Zeit Du Dir nehmen kannst.
      Als ich zum Fernsehturm geradelt bin, dachte ich mir noch „Wenn die geschlossen haben oder der Walk nicht stattfindet, dann ist es eben so“. Von wegen, bestes Spaziergangwetter und es war ein tolles Erlebnis. Mutig ja, aber ich bin ja nicht gesprungen (das dürfen nur die Profis am Geburtstag des Turms).
      Danke fürs Begleiten und liebe Grüße nach Hause
      Uli

  4. Für mich nochmals ein Nachfühlen unserer Reise. Tallin hat uns auch sehr gut gefallen und wir haben uns überhaupt in Estland ebenfalls,sehr wohl gefühlt. Du hast deine Beschreibung des Landes und dessen tolle Hauptstadt auf dem Punkt gebracht. Grossartig geschrieben. Weiterhin eine pannenfreie Reise. Naja, manchmal gehört auch so eine kleine Panne dazu, um Land und Leute besser kennen zu lernen. Wir hatten vor fünf Jahren einen Kupplungsschaden mitten in Las Vegas. Wir haben die Stadt am Anfang gehasst und nach einer Woche Zwangsaufenthalt sogar gemocht.

    1. Liebe Viola,
      war der Schaden mit einem WoMo?
      Wenn mein Zwangsaufenthalt in Tallinn der einzige Schaden bleibt, bin ich zufrieden. Na ja, in Polen sind mir bereits an einem Schlagloch alle Regalböden durchgekracht, aber damit kann ich leben (wenn es nicht in Polen geschehen wäre, hätte ich das Problem irgendwann im Baltikum bekommen). Das repariere ich, wenn ich wieder zu Hause bin (Panzertape kann leider doch nicht alles :-).
      Schön, daß Du mit meinem Bericht in Erinnerung an Deine eigene Reise schwelgen kannst, das freut mich sehr.
      Liebe Grüße
      Ulrike

  5. Wow, was für ein toller Bericht über Tallin, ganz herzlichen Dank. Es dauert noch ein wenig bis wir dann auch da sind , dafür haben wir dann alle Zeit der Welt. Bei den vielen Tipps die du gibst ist die auch notwendig, wir sind nicht ganz so flott unterwegs wie du.

    Herzlicher Gruss aus der Schweiz, Jürg

    1. Hallo Jürg,
      ich bin gespannt, wie es Euch in Tallinn gefallen wird. Etwas schmunzeln mußte ich ja bei meinem flotten Tempo. Im Vergleich zu meinen Mitreisenden, die ich in den letzten Monaten kennengelernt habe, sind fast alle mittlerweile wieder zu Hause in Deutschland oder Österreich. Mich schmerzt, daß ich aus Vernunftsgründen eine Ecke Estlands (Nord-Osten) auslassen werde, doch so habe ich einen Grund, mal wieder herzukommen.
      Schön, daß Ihr das Erkunden noch vor Euch habt – ich bin gespannt, wie es Euch hier im Baltikum gefallen wird.
      Schöne Grüße
      Ulrike

  6. Liebe Uli,
    Deine Beschreibungen sind so frisch, bunt und lebendig und machen richtig Lust auf Entdeckungsreise zu gehen. Irgendwann werde auch ich dieses Fleckchen Erde erreichen, davon bin ich fest überzeugt :-). Pass auf Dich auf und bis bald.
    Liebe Grüße

    1. Liebe Kristina,
      ich habe oft an Dich gedacht und wie gut es Dir hier gefallen würde. Du würdest bestimmt bei dem ein oder anderen Startup anklopfen und mal „hinter die Kulissen schauen“. Ich weiß noch, wie Du mir sagtest, Tallinn wäre wegen der digitalen Vorreiterrolle Dein Favorit unter den baltischen Städten.
      Ich wünsche Dir, daß Du Dir Deinen Besuch bald ermöglichen und viele Inspirationen mitnehmen wirst.
      Vielleicht komme ich ja nochmal mit 😉
      Liebe Grüße
      Uli

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert