Stöbern, Schlemmen, Schlendern und Staunen – wie mich Rīga auch beim zweiten Besuch begeistert

Ein paar Kilometer vor Rīga stehe ich vor der Entscheidung: Fahre ich in die Hauptstadt Lettlands oder konzentriere mich auf Orte und Landschaften, die ich noch nicht besucht habe?

Nach meinen sonnenverwöhnten Wanderungen im Ķemeri-Nationalpark regnet es einen ganzen Vormittag. Gut für die Natur, nur meine geplante Wanderung am Sloka-See lasse ich ins Wasser fallen. In einem der 15 Strand-Örtchen des Badeparadieses Jūrmala bei Regen zu flanieren erscheint mir auch nicht verlockend. Also auf in die größte Stadt des Baltikums: Museum oder Bummeln geht immer!

So sehr ich die Romantik und Abgeschiedenheit mancher Stellplätze schätze, treffe ich auch gern andere Menschen.

Je mehr Menschen, desto vielfältiger das Warenangebot

Entlang der Straße in die Innenstadt werde ich am Ortsrand auf ein Outlet-Center Via Jurmala aufmerksam. Das kommt wie bestellt. Allen Shoppingfreunden rate ich allerdings: Gebt dem Center noch ein paar Monate, bis die geplanten Shops – hoffentlich – ihre Verkaufsräume bezogen haben. Gängige Jeansmarken und Schuhgeschäfte dominieren das neu angelegte Outlet. Zwei meiner BHs haben durch die letzten Waschprozeduren Schaden genommen und ich möchte sie ersetzen. Im Outlet werde ich nicht fündig, so steuere ich gezielt ein klassisches Einkaufszentrum in Rīga an, widerstehe fast allen Sommerschlußverkauf-Sonderrabatt-Aktionen und kaufe 3 BHs … und 2 Paar Schuhe.

Im Center verirre ich mich auch in den Hypermarket, ein Supermarkt mit gigantischer Verkaufsfläche, in dem ich 1,5 Stunden verbringe und knapp 50 Euro für normale aber auch ungewöhnliche Lebensmittel ausgebe: griechisches Joghurt mit 0% Fett (ein Paradoxon, schmeckt wie ganz normales Joghurt, hätte ich ahnen können), Kartoffel-Chips mit Meerrettichgeschmack, Schokolade mit Rote-Beete-Füllung, Blauschimmelkäse von der Memel, Räucherlachs-Kaviar-Creme, frisch gebackenes Oliven-Ciabatta … Nach all den Tante-Emma-Läden oder Verkaufsständen am Straßenrand erfreut und überfordert mich die Auswahl. Ich staune, welche exotischen Produkte angeboten werden und versuche, die lettischen Beschriftungen der Lebensmittel, gern auch mal – für mich wenig hilfreich – durch Litauisch und Estnisch ergänzt, wenigstens in Ansätzen mittels Übersetzungs-App zu entschlüsseln.

Mal ist es Interesse am Geschmack und mal Neugier, die mich zu meinen kulinarischen Experimenten inspiriert.

Nächtigen, wo Segler mit ihrer Yacht anlegen

Zur Übernachtung beherzige ich einen Tip aus einer Facebookgruppe. Dort habe ich mitbekommen, daß es direkt am Hafen eine Stellplatzmöglichkeit mit Dusche gäbe. Ich kann für 10 Euro pro 24 Stunden hinter einer Schranke auf dem Gelände des Yachthafens stehen und nicht nur die Toiletten und Duschen hinter der Bar sind inklusive, auch die Nutzung des „Laundry Rooms“ mit Waschmaschine und Trockner kostet nichts extra. Vor der Abfahrt solle ich an einem Kassenautomaten mein Kfz-Kennzeichen eingeben und kontaktlos mit Handy bezahlen. Ich bin – wie schon in der Partnerstadt Vilnius – vom unkomplizierten Stellplatzfinden zu günstigen Konditionen begeistert. Dusche und Waschmaschine nehme ich sofort in Anspruch und breche auf in die seit 1997 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnete Altstadt Vecrīga.

Mein „Heimathafen“.

Rīga sehen und wohlfühlen

Das Entspannende an einem wiederholten Besuch einer Stadt ist, daß die wichtigsten Sehenswürdigkeiten meist schon besichtigt wurden. Ich lasse mich treiben und komme – oh Wunder – sowieso an allen möglichen Sehenswürdigkeiten vorbei. Wonach ich beim letzten Mal noch suchen mußte (Wo steht dieses Gildehaus mit der Katze auf dem Turm? In welcher Gasse finde ich die „3 Brüder“? usw.), daran werde ich beim Vorbeischlendern ganz automatisch erinnert.

Die drei Brüder gehören zu den ältesten Steinhäusern von Rīga .

Vor dem Dom vermisse ich die United Buddy Bears, die Ausstellung der knapp 150 Bärenstatuen, die von Künstlern aus unterschiedlichen Ländern bemalt wurden. Im Sommer 2018 zierten sie den Domplatz, auf dem ich mich ohne Bären und ohne Touristen etwas verloren fühle. Ob es am Wetter, am nahenden Ende des Sommers oder an Corona liegt, daß so wenig Menschen unterwegs sind, kann ich nicht beurteilen. Im Vergleich zum umtriebigen Vilnius vor wenigen Wochen wirkt Rīga fast ausgestorben. Auf dem Rathausplatz treffe ich doch noch einen Bären und er verrät mir, daß seine 146 Bären-Kumpels den Sommer im Tierpark Friedrichsfelde in Berlin verbringen.

Wiedersehensfreude mit dem Rīga-Bär auf dem Rathausplatz vor dem Schwarzhäupterhaus.

Wie wenig los ist merke ich, als ich die Dachterrasse des Hotels Gutenbergs ansteuere. Vor 2 Jahren habe ich dort oben die Mondfinsternis zusammen mit meinen Studienkollegen verfolgt. Damals war die Terrasse ausgebucht, heute bin ich der einzige Gast und genieße die volle Aufmerksamkeit des Personals, obwohl ich nur eine Latte Macchiato trinke. Lettland hat eine 14-tägige Isolationspflicht für Einreisende aus Corona-Risikogebieten verhängt – mittlerweile gehört auch Deutschland dazu. Das merke die Hotelgastronomie deutlich, bedauert Lev von der Rezeption.

Ich bin Fan des Essens und der Aussicht von der Terrasse.
Aus familiärer Quelle weiß ich, daß auch das Hotel mit seinen Zimmern empfehlenswert ist.

Mein Handy gibt ein Signal: Meine Wäsche ist fertig, nur befinde ich mich 17 Gehminuten von der Waschmaschine entfernt. Kein Problem: Auch in Rīga gibt es unzählige Elektro-Roller, die ich zwischendurch nutze. In flotten fünf Minuten bin ich zum Hafen zurückgerollert und räume meine Wäsche in den Trockner um.

In Deutschland hatte ich die E-Roller noch nie ausprobiert. Im Baltikum finde ich diese Form der Mobilität sehr nützlich.

Abends wird mir klar, welchen Fehler ich gemacht habe. Im Hypermarkt-Kaufrausch habe ich meinen Kühlschrank mit Lebensmitteln vollgepackt ohne an die Vielzahl ansprechender Restaurants in Rīga zu denken, die mit ihren lettischen oder internationalen Gerichten locken. Hin- und hergerissen entscheide ich mich für ein Abendessen „zu Hause“ mit Blick auf den Sonnenuntergang am Hafen.

Ich war noch niemals in Rīga mit einem Monowheel

Am nächsten Morgen stehe ich vor der Entscheidung: In Rīga bleiben oder weiterfahren. Die Wettervorhersage verspricht Wolken ohne Regen. Ach komm, Monowheel raus und mal sehen, wohin es mich verschlägt. Also rollere ich mit dem Monowheel den Fluß Daugava entlang bis zum Lagerhallenviertel Spīķeri und bestaune die renovierten Ziegelsteinbauten, in denen früher die Waren zur Weiterverarbeitung gelagert wurden.

Mehr Infos unter www.spikeri.lv

Gleich nebenan findet jeden Tag der Zentralmarkt statt. Die Stände zwischen den Hallen mit Kleidung, Haushaltswaren, Obst, Gemüse und sonstigem Grünzeug erkunde ich mit dem Monowheel und genieße die unterschiedlichen Eindrücke und Gerüche. Offensichtlich haben Pfifferlinge Saison. Die ehemaligen Zeppelin-Hangars, in denen ein Teil des Zentralmarktes abgehalten wird, erkunde ich zu Fuß. Niemand trägt eine Maske und auch keine Waffe – kein Wunder: Am Eingang wird darauf hingewiesen, Schußwaffen draußen zu lassen.

Es gibt ein paar Verbote für den Zentralmarkt, eine Maskenpflicht besteht (bisher) nicht.

Danach lasse ich mich ohne Ziel durch Rīga treiben, trinke im „The Most Romantic Café in Old Town“ meinen ersten Dalgona-Kaffee (kalter Kaffee nach einem südkoreanischem Trend), von dem ich weiß, daß er mich die ganze Nacht wachhalten wird und lasse mich beim Rollern durch die Straßen des „Stillen Zentrums“ von den Fresken der Jugendstil-Fassaden beobachten.

Ist das Kunst oder …?

Auf der Rückfahrt zum Wohnmobil ziehen orangefarbene Plakate meine Aufmerksamkeit auf sich und führen mich zu RIBOCA2, einer wegen Corona auf August verschobene Kunstaustellung auf dem Hafengelände. Das Prinzip mit den Eintrittskarten gefällt mir. Für 6€ bekomme ich ein Stoffbändchen ans Handgelenk geklemmt und könnte damit bis zum 20.9.2020 wiederholt auf das weitläufige Ausstellungsgelände. Schließlich gäbe es hier so viel zu sehen, daß ich gar nicht alles in Ruhe anschauen könne, warnt mich die Dame an der Kasse. Den Exhibition Guide gibt es papier- (und gewichts-) sparend online auf http://www.riboca.digital/en.

Ich tauche ein in zeitgenössische Kunst und durchlebe verschiedene Gemütszustände zwischen Begeisterung, Besinnung, Faszination und Verstörung. Hier hätte ich mir Gesellschaft gewünscht, um alles zu verarbeiten, was es zu sehen und zu erleben gibt. Das Gelände allein ist schon sehenswert. Ich bin zum ersten Mal auf einem Paintball-Gelände. Die Künstlerin hat ihre Kunstwerke in die verlassenen Gebäude integriert.

https://riboca.digital/en/artworks/05

Im Hafen schwimmen 2.000 Pinienstämme aus lettischen Wäldern.

https://riboca.digital/en/artworks/09

Da auf dem Hafengelände viele streunende Katzen leben, liegen im ehemaligen Hafengebäude zwei Marmorlöwen, die regelmässig mit Milch übergossen werden, damit die Katzen Schutz und Nahrung finden.

https://riboca.digital/en/artworks/12

Ich meditiere über Kopfhörer 30 Minuten lang vor einem Lehmhaufen und finde zu meinem inneren Selbst, das auch nur aus Lehm besteht – oder so ähnlich und erfreue mich an Unmengen gehäkelter Blumen.

Eine Ausstellungsführerin erklärt vor 4 Plakaten mit Spinnenmotiven, daß mir eine App (http://www.arachnophilia.net), in die ich eine Fotografie eines Spinnennetzes aus meiner Umgebung hochlade, Fragen zu meiner Zukunft beantworten und mich mit der Welt verbinden wird. Ich habe es noch nicht ausprobiert, vielleicht magst Du das testen und hier berichten.

Über die Balancierenden Steine und die Matschmännchen kann ich nur schmunzeln und bei den „Sounds from Beneath“ (#35) fühle ich mich doch sehr an das Konzerterlebnis mit Hape Kerkeling mit seinem Lied „Hurz“ erinnert.

Und aus welchem Grund die Waggons der New Yorker Metro ins Meer gekippt werden (#46 – Ocean II Ocean) habe ich auch noch nicht erfaßt. In der Videoinstallation landet alles in der Edelstahlschüssel eines öffentlichen WCs.

Um 20 Uhr verlasse ich das Ausstellungsgelände voller Eindrücke und zufrieden mit meiner Entscheidung, einen weiteren erlebnisreichen Tag in Rīga verbracht zu haben.

Mich beruhigt der Gedanke, daß ich auch beim nächsten Besuch in Rīga weitere Gebäude, Stadtteile, Plätze, Kirchen, Ausstellungen, Museen, Bars und Restaurants entdecken werde. Wenn Dir Dein erster Besuch in Rīga noch bevorsteht – freue Dich darauf. Du kannst viel Spaß beim Stöbern, Schlemmen, Schlendern und Staunen haben.

Uz redzēšanos – ich komme wieder!

8 Kommentare

    1. Hallo Jörg,
      sehr gut, deshalb habe ich meinen Stellplatz verraten. Die Menschen, die meinen Blog lesen, sollen mit diesem Tip ebenso schöne Erlebnisse haben wie ich.
      Wann hast Du geplant, ins Baltikum zu reisen? Vorausgesetzt, Du wirst nach Anreise nicht 14 Tage in Corona-Isolation geschickt …
      Schöne Grüße zurück in die Schweiz
      Ulrike

  1. 2 BH´s hast du benötigt und dann doch 3 gekauft und dann noch die Schuhe. Tststs
    Ach so, du bist ja ne Frau die brauchen immer mehr Schuhe 😉 auch wenn sie schon 20 Paar haben.
    Aber wenn n Mann mal Geld für was „Sinnvolles“ ausgibt ist er(früher ich) ein Verschwender.
    Braucht man mehr als z.B. 4 Paar Schuhe oder 3 Hosen? *fg* Ich finde alles was zu viel ist, bindet nur finanziell und auch psychisch und beides ist nicht optimal. Muß aber jeder machen/wissen wie er will.
    Nichts für ungut und schreib weiter so.
    Gruß Dieter Spre

    1. Hallo Dieter,
      it’s genetic, I can’t help.
      Zu meiner Verteidigung kann ich berichten, daß ich bereits 2 BHs und 1 Paar Schuhe habe entsorgen müssen. Im Camper bin ich bei Dir, da reichen 3 Hosen (allerdings in beiden Längen – jetzt kommen aufgrund des kühleren Wetters die langen Hosen zum Einsatz). Eine Hose hat beim Heidelbeerpflücken diverse Flecken abgekommen – ich schätze, die schafft es auch nicht mehr bis zurück nach Hause …
      Was ist für Dich „was Sinnvolles“?
      Schöne Grüße
      Ulrike

  2. Liebe Uli,
    ein wunderschöner Bericht von einer faszinierenden Stadt! Wir waren vor drei Wochen dort bei schönstem Sommerwetter – auch an den Stränden: und die Stadt war sehr lebendig und gut gefüllt.
    Wir werden auch wiederkommen und dann durchs ganze Baltikum fahren.
    Dir weiter eine Reise reich an schönen Erlebnissen!
    Rainer

    1. Lieber Rainer,
      da haben wir uns in Riga nur knapp verpaßt.
      Schön, daß Dir mein Bericht gefallen hat und ich verstehe Deinen Wunsch, das Baltikum zu erkunden. Es gibt so vielfältige Sachen zu sehen und zu erleben. Ich gönne mir gerade ein paar Tage auf einem Campingplatz, so ohne Herumfahren, nur einfach die Ruhe genießen.
      Liebe Grüße und bis bald,
      Uli

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